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Frauenweis(s)heiten im Juli & August

Liebe Leserin, lieber Leser

Als zweitletztes Land in Europa hat die Schweiz das Stimm- und Wahlrecht für Frauen 1971 auf nationaler Ebene eingeführt. Warum so spät? Es hat unter anderem mit den tief verankerten traditionellen Rollenbildern zu tun. Darauf gründet auch die ungleiche Verteilung der lebensnotwendigen Care- resp. Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern. Die Bedeutung der Pflegearbeit für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft wurde während der Pandemie einmal mehr betont. Und doch finden die Anliegen der Pflegefachpersonen in der Politik wenig Gehör. Regelmässig führt auch die unbezahlte Sorgearbeit in der Familie für kranke, betagte oder behinderte Angehörige, meistens von Frauen geleistet, für öffentliche Diskussionen. Doch wird diese unverzichtbare Arbeit im Betrag von Milliarden im Bruttosozialprodukt unseres Landes nicht aufgeführt.
Die Texte in diesem Newsletter beleuchten Hintergründe und Zusammenhänge und zeigen, was im Hinblick auf die unbefriedigende Situation zu tun ist.

Die Sorge für die Natur und für andere Menschen ist der im Porträt beschriebenen Magdalen Baumann ein zentrales Anliegen. Als Powerfrau mit grossem Herzen hielt sie ihr Haus offen auch für andere, unter anderem für Menschen mit einer Beeinträchtigung und für Pflegekinder. Doch war es ihr wichtig, neben ihren Aufgaben als Bäuerin, Hausfrau und Mutter auch ihren Beruf auszuüben.
Die Historikerin Heidi Witzig zeigt auf, wie mit der Trennung der Lebenswelten von Frauen und Männern zurzeit der Industrialisierung den Geschlechtern neben spezifischen Aufgaben von Gesellschaft und Kirche auch dazu passende Charaktereigenschaften zugewiesen wurden. Für die Frauen bedeutete dies, dass sie die gesellschaftliche und psychische Disposition zum Dienen gelernt und oft verinnerlicht haben. Noch heute wird die unbezahlte Sorgearbeit oft als Dienst aus Liebe bezeichnet, und Frauenberufe werden schlechter bezahlt als Männerberufe.
Die Theologin und Philosophin Ina Praetorius fordert ein anderes Verständnis von Ökonomie und einen notwendigen Perspektivenwechsel, ist sie doch überzeugt: Wirtschaft ist Care. Nicht mehr das Geld und die profitgetriebene Produktion überflüssiger oder gar schädlicher Güter soll die Mitte des Ganzen bilden, sondern «das Leben und seine Erhaltung, das Sorgen für die Welt, der Einsatz für einen kulturellen Wandel».

Haben die Texte auch in Ihnen Erinnerungen oder Fragen geweckt?
Wir freuen uns über Ihre Rückmeldungen und Anregungen.

Das Frauenweis(s)heiten-Team

Kontakt
Monika Fischer
fischerabt@bluewin.ch

PORTRÄTS: FRAUEN DER GROSSMÜTTERGENERATION
Magdalen Baumann schätzt das Leben für und mit anderen Menschen in ihrem offenen Haus.
Magdalen Baumann schätzt das Leben für und mit anderen Menschen in ihrem offenen Haus.

Eine Powerfrau mit grossem Herzen

Text & Foto: Marianne Stohler

In der gemütlichen Wohnung in einer ausgebauten Scheune neben dem stattlichen, wunderschönen alten Bauerhaus lebt die bald 71jährige Magdalen Baumann mit ihrem Mann. Der Blick aus den grossen Fenstern schweift weit über die sanften Hügel des Hirzels zum Zürichsee und bis zu den noch tiefverschneiten Bergketten. Die Wohnung ist heimelig eingerichtet. Auf dem kleinen Tisch bei der Sitzgruppe steht ein Feldblumenstrauss. Den Hauptplatz nimmt der grosse Tisch ein, an dem viele Personen Platz haben. Grosse Tische ziehen sich durchs Leben von Magdalen. Schon in ihrer Kindheit im Pfarrhaus wohnte sie in einem offenen Haus mit einem Tisch, an dem auch immer Unangemeldete willkommen waren.

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DAMALS UND HEUTE

Care – Arbeit neu definieren und verteilen

Heidi Witzig

Seit Jahrhunderten lebten Frauen, Männer und Kinder in der Schweiz in der Arbeits- und Lebensform des «Ganzen Hauses». Meist waren dies Dreigenerationen-Familien mit ledigen Töchtern und Söhnen und allenfalls Knechten und Mägden. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung lebte auf dem Land, in bäuerlichen, gewerblichen oder Heimarbeits-Familienwirtschaften. Und alle, wirklich alle, arbeiteten produktiv. Nur so war ein Auskommen überhaupt möglich. Allenfalls übernahm ein altes oder nicht ganz arbeitsfähiges Familienmitglied die Betreuung kleiner Kinder oder kranker Menschen, also das, was wir heute als Care-Arbeit bezeichnen. Zentral war lediglich das Kochen, um alle möglichst gesund und arbeitskräftig zu erhalten.

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​1971 – EINE ANNÄHERUNG

Sagen, was wahr ist: Wirtschaft ist Care

Ina Praetorius

Jeden Werktag Abend zur besten Sendezeit berichtet das öffentlich rechtliche Fernsehen der deutschsprachigen Schweiz über die Entwicklung der Börse. Ich höre mir die drei Minuten «SRF Börse» vor der Hauptausgabe der Tagesschau so regelmässig wie möglich an, kann mich aber nicht erinnern, da jemals von dem erheblichen Arbeitsvolumen erfahren zu haben, das unter den elegant auf- und absteigenden Kurven des Swiss Market Index verborgen liegt. Zwar gäbe es weder das Fernsehstudio am Leutschenbach noch den Chefredakteur Reto Lipp, weder Banken noch SMI, wenn niemand dafür sorgen würde, dass die Hemden gebügelt, die Klos geputzt und die Kinder in die Schule geschickt werden. Aber es ist halt tatsächlich nicht so faszinierend, dass durch die Arbeitsteilung zwischen der Welt der Krawatten- und Stiletto-Träger*innen und der unbezahlten Haushaltsproduktion die Frauen in der Schweiz um jährlich ungefähr 100 Milliarden Franken betrogen werden.

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